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Gedanken zum Gemeinwohl von Christian Felber

Gedanken zum Gemeinwohl, 20. Dezember // BfG Genossenschaft für Gemeinwohl // Foto: José Luis Roca
Dienstag, 20. Dezember 2016

Gedanken zum Gemeinwohl von Christian Felber

Gemeinwohl – was bedeutet das?

Manche Menschen stehen dem Gemeinwohl-Begriff grundsätzlich skeptisch gegenüber: Wer bestimmt denn, was Gemeinwohl bedeutet? Kann nicht jede*r darunter etwas anderes verstehen? Und wenn „dein Gemeinwohl“ dem meinen widerspricht, was dann? Ist der Begriff am Ende wertlos, weil alles- und nichtssagend? 

Zunächst: Die initiale „Unschärfe“ teilt der Gemeinwohl-Wert mit allen Grundwerten.

„Nachhaltigkeit“ ist das beste Beispiel für einen unendlich dehnbaren Gummibegriff. Aber auch Gerechtigkeit, Freiheit oder Liebe sind äußerst anfällig für unterschiedliche Verständnisse, Definitionen, Bedeutungen: Die Freiheit, die ich meine! Das hält uns aber nicht davon ab, uns nach Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe zu sehnen. 

Eine heiße Spur hat die Ethik, eine Teildisziplin der Philosophie, gelegt.

Es wird unterschieden zwischen der inhaltlichen und der formalen Definition von Gemeinwohl – oder jedem anderen Grundwert. Die inhaltliche Definition steht immer schon fest. Dann war es die liebe Göttin, der wohlwollende Diktator oder das Naturgesetz, das bestimmt, was Gemeinwohl zu bedeuten hat. Von so einem Ansatz halten wir uns möglichst fern. Die formale Bedeutung kann nur in einem breiten Abstimmungsprozess aller Mitglieder eines Gemeinwesens, von der Gemeinde bis zur Weltgemeinschaft, ermittelt und festgemacht werden. So wird am ehesten sichergestellt, dass kein Grundbedürfnis, kein Grundwert und keine Person übesehen wird – oder sich das Gerechtigkeits-, Freiheits- oder Gemeinwohl-Verständnis einer mächtigen Gruppe durchsetzt. Werden solche Abstimmungsprozesse intelligent durchgeführt, zum Beispiel mit Hilfe des Verfahrens der Soziokratie (in kleineren Gruppen) oder des systemischen Konsensierens (in Gruppen jeder Größe), dann können die Ergebnisse die größtmögliche Weisheit der Menschheit hervorbringen. Die Sustainable Development Goals der UNO, die 2015 zusammengestellt wurden, sind ein Hoffnungsschimmer, dass sich auch Regierungen auf ein gemeinsames Verständnis von Weltgemeinwohl einigen können. Die Erklärung der Menschenrechte waren der bisher größte Erfolg in diese Richtung. Sie können als die lebenspraktische Ausdeutung des Werts der Menschenwürde verstanden werden.  

 

Die Gemeinwohl-Ökonomie schlägt vor, dass ein Gemeinwohl-Produkt, das das Bruttoinlandsprodukt als Erfolgsindikator einer Volkswirtschaft ablösen könnte, von den Mitgliedern eines demokratischen Gemeinwesens, von den freien und souveränen Bürger*innen selbst komponiert werden sollte: in dezentralen Beratungs- und Entscheidungsprozessen. Das Projekt Bank für Gemeinwohl greift ebenfalls auf die Weisheit der Crowd zurück, um die ethische Kreditwürdigkeit eines Projekts, für das Finanzierung gesucht wird, mit größtmöglicher Umsicht zu ermitteln: durch eine partizipative Gemeinwohl-Prüfung

 

Eine perfekte Definition von Gemeinwohl wird es vielleicht nie geben.

Doch das ist auch nicht der Zweck der Übung. Ziel ist, dass wir uns auf einen gemeinsamen Leitstern des Wirtschaftens einigen und uns diesem mit praktischem Lebensbezug demokratisch annähern – zum Beispiel in Form von Gemeinwohl-Produkt, Gemeinwohl-Bilanz und Gemeinwohl-Prüfung – und nach und nach „die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit“ (bayerische Verfassung) auf diesen Leitstern ausrichten. Nicht nur in einem Ausnahme-Projekt und nicht nur zu Weihnachten.

 

Christian Felber,
Mitinitiator des Projekts Bank für Gemeinwohl und Aufsichtsrats-Mitglied der BfG Genossenschaft für Gemeinwohl